Soziales Forderungsmanagement wird immer wichtiger
Philip Boland ist Product Owner und Credit Management Specialist bei Aryza in den Niederlanden. im Interview erklärt er, warum soziales Forderungsmanagement und soziales Inkasso immer wichtiger werden.
Der finanzielle Druck auf Verbraucher wird immer größer. Hat das Thema Soziales Forderungsmanagement bzw. Soziales Inkasso durch die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung an Relevanz gewonnen?
Philip Boland In Holland haben insbesondere die Großunternehmen das Thema schon länger auf dem Schirm. Dort werden im Fall eines Zahlungsverzugs nicht mehr direkt gesetzliche Schritte eingeleitet, niemand wird unverzüglich vors Gericht gezerrt. In der Regel bieten Unternehmen Schuldnern zunächst eine Zahlungspause an. Das war auch schon vor der Energiekrise der Fall. Ein Grund dafür ist, dass die Richter in den Niederlanden restriktiver sind als früher, wenn es um die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens geht. Der Konsumentenschutz ist heute ein ganz anderer.
Im Vergleich zu wann?
Philip Boland Vor zehn Jahren hat für die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in der Regel ein Brief und mehrere offene Rechnungen ausgereicht. Heute müssen mindestens 16 Seiten Korrespondenz eingereicht werden, darunter der Vertrag, alle Rechnungen, die Historie des Falls. Außerdem sind Unternehmen in der Pflicht, alle Kredite über 250 €, die vergeben werden sollen, beim BKR (niederländisches Äquivalent der SCHUFA) anzumelden. Das schließt manch ein schnelles Geschäft direkt im Ladenlokal aus. Auch sind die gesetzlichen Vorgaben strenger geworden.
Welche gesetzlichen Vorgaben sind das?
Philip Boland Die Gesetzgebung besagt, dass die Inkassokosten bereits beim Vertragsabschluss kommuniziert werden müssen. Der Prozentsatz ist vorgegeben und liegt bei 15 %. Früher haben manche Unternehmen auch schon mal eigenmächtig 20 % kassiert. Hinzu kommt, dass die Zinsen nie mehr als 100 % der Gesamtsumme betragen dürfen. Außerdem gibt es einen Höchst-Inkassobetrag von 40 € bis zur Hauptsumme von 267 Euro. Erst dann darf mehr berechnet werden.
Der Grund ist, dass die Menschen nicht in einen Teufelskreis der Schulden geraten sollen?
Philip Boland Absolut, letztendlich ergibt das aber auch für Unternehmen wirtschaftlich mehr Sinn. Es ist so, dass im B2C-Bereich im Schnitt etwa ein Prozent der Kunden im Inkasso landen, von denen im Endeffekt 50 oder 60 % ihre Schulden bezahlen können. Betrugs- und Sanierungsfälle sind hier bereits rausgerechnet. Es bleiben also noch 0,4 % der Schuldner am Gesamtportfolio, die wirklich nicht zahlen können. Hier bietet sich das Angebot zum Beispiel eines Zahlungsplans ohne Extrakosten und ohne Zinsen an, damit diese Menschen wieder auf die Füße kommen.
In Holland und Deutschland sind die Vorbehalte gegen Open Banking aufgrund von Datenschutzbedenken oftmals noch hoch. Doch die Akzeptanz von Open Banking oder Open Finance steigt in den nachwachsenden jüngeren Generationen deutlich.
Philip Boland
Müssen Unternehmen Soziales Inkasso, bzw. Soziales Forderungsmanagement auch zunehmend in Betracht ziehen, weil ESG-Anforderungen immer wichtiger werden?
Philip Boland Genau das, die Erwartungshaltung durch externe Parteien hinsichtlich ESG wird größer. Unternehmen sollten Soziales Inkasso aber auch aus Eigeninteresse betreiben. Denn 1.) Kunden, die ihre Schulden bezahlen können, können danach auch wieder Konsumenten werden und etwas kaufen. 2.) Kunden, die man einmal ins Inkasso geschickt hat, kommen garantiert nie mehr zurück.
Die richtige Ansprache der Schuldner mithilfe einer Segmentierung ist doch auch wichtig, bevor der Inkasso-Fall eingetreten ist?
Philip Boland Natürlich, es kann nicht mit jedem Konsumenten auf die gleiche Art und Weise kommuniziert werden. Einen 80-Jährigen per WhatsApp zu adressieren ergibt gegebenenfalls genauso wenig Sinn, wie einen 18-Jährigen per Briefpost anzuschreiben. Und Unternehmen sollten sich bewusst sein: Kommunikation ist eine heikle Variable, die das Zahlungsverhalten deutlich beeinflussen kann. In Deutschland ist die Vorgehensweise teilweise noch sehr altmodisch. Da werden aus SAP Finance zwei Briefe versandt, danach geht der Fall ins Inkasso. Da wird kein Sofortlink mit Zahlungsmöglichkeit oder SMS-Bericht verschickt. Hier ist noch viel Verbesserungsspielraum.
SAP reicht nicht aus für ein zukunftsgerechtes Forderungsmanagement?
Philip Boland Das geht natürlich, aber eine spezielle Forderungsmanagement-Lösung ist für diesen Zweck immer besser als SAP. Sie ist skalierbar, der Team Lead Debitoren kann die Nutzerprofile selbst einrichten, es müssen keine IT-Tickets für change requests geschrieben werden, die dann langwierig abgearbeitet werden und teuer sind. Diese Vorgehensweise reicht nicht aus in einem Markt, in dem sich das Zahlungsverhalten der Kunden ständig ändern kann und dementsprechend das Forderungsmanagement regelmäßig angepasst werden muss. Zudem sind mit modernen Forderungsmanagement-Lösungen A/B-Testings möglich, die Aufschluss darüber geben, welche Art und Tonalität in der Kommunikation am besten zum Erfolg führt.
Welche Rolle spielt hier die Automatisierung?
Philip Boland Zunächst muss man sagen, dass dies im B2C-Bereich natürlich völlig anders ist, als im B2B-Bereich. Im B2C läuft in der Regel 95 % der Kommunikation automatisiert und auf Basis vorher festgelegter Regeln und Workflows ab. Etwa 5 % der Fälle müssen nachtelefoniert werden oder gehen ins Inkasso. Im B2B-Bereich spielt die direkte Kommunikation eine größere Rolle. Grundsätzlich ist natürlich auch hier die Vorgehensweise sehr individuell vom jeweiligen Unternehmen abhängig.
Kann die Segmentierung noch verfeinert werden, zum Beispiel durch Open Banking?
Philip Boland In Holland und Deutschland sind die Vorbehalte gegen Open Banking aufgrund von Datenschutzbedenken oftmals noch hoch. Doch hier ist man auf der Suche nach Lösungen, zum Beispiel durch die Einbindung von Drittanbietern, die Bank- oder Finanzdaten als neutrale Instanz analysieren und eine Empfehlung geben: z. B. Kredit Ja/Nein. Am Ende der Transaktion werden die Daten DSGVO-konform gelöscht. Abgesehen davon steigt die Akzeptanz von Open Banking oder Open Finance in den nachwachsenden jüngeren Generationen deutlich.