IHK fürchtet „zweite Welle“ bei Insolvenzen
Die Bundesregierung hat die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht auf Ende April verlängert. Erhalten Sie aus der Unternehmerschaft viele Anfragen zu diesem Thema?
Gregor Werkle Die Anzahl der Krisenberatungen nimmt in der Tat zu. Ohne die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht müssten deutlich mehr Unternehmen Insolvenz beantragen. Viele Unternehmer hoffen dennoch, die Insolvenz durch die staatlichen Corona-Hilfen abwenden zu können. Voraussetzung ist jedoch, dass die Betriebe zügig eine Öffnungsperspektive bekommen.
Diese Aussetzung ist an Bedingungen geknüpft. Wie bewerten Sie diese Bedingungen?
Gregor Werkle Die Bedingungen an die Aussetzung halten wir für grundsätzlich für sinnvoll, weil sie daran anknüpfen, dass die Insolvenz durch die Corona-Hilfen verhindert werden kann. Gleichwohl setzen sich die Verantwortlichen im Unternehmen einem nicht zu unterschätzenden Haftungsrisiko aus. Sollte am Ende doch die Insolvenz unvermeidbar sein, werden Insolvenzverwalter etwaige Ansprüche gegen die Geschäftsführung wegen Insolvenzverschleppung prüfen.
Die IHK Mittlerer Niederrhein hat gemeinsam mit der Schuldnerhilfe in Köln eine Insolvenzhotline für kleine und mittlere Unternehmen eingerichtet. Wie wird diese Hotline genutzt?
Gregor Werkle Bislang mit drei Beratungen pro Monat noch sehr zurückhaltend. Wir befürchten allerdings, dass der Bedarf deutlich steigen wird. Uns ist wichtig, dass betroffene Unternehmer in dieser schwierigen Situation nicht alleine gelassen werden und kostengünstige Hilfe in Anspruch nehmen können.
In Kraft getreten ist am 1. Januar das Gesetz zur Fortentwicklung des Sanierungs- und Insolvenzrechts. Es richtet sich an Unternehmen, die drohend zahlungsunfähig sind – puffert das Gesetz die Härte der Pandemie ab?
Gregor Werkle Das Gesetz soll in der Tat eine frühzeitige Sanierung bei drohender Zahlungsunfähigkeit ermöglichen. Allerdings ist der Stabilisierungs- und Restruktierungsrahmen sehr kompliziert und damit beratungsintensiv. Es ist daher zu befürchten, dass dies nur eine Lösung für größere Unternehmen darstellt und nicht für die Vielzahl der durch Corona in Mitleidenschaft gezogenen KMUs.
Wie sehen Sie die Situation der Finanzierungsbedingungen unter den aktuell schwierigen Bedingungen (Kreditversorgung und –Konditionen)?
Gregor Werkle Mehr als die Hälfte der bislang ausgezahlten Corona-Hilfen erfolgte durch KfW-Kredite. Die KfW-Sondermaßnahmen sind sicherlich im Moment eine große Hilfe. Kredite müssen allerdings zurückgezahlt werden. Je länger die Pandemie dauert, desto schwieriger wird es werden, den notwendigen Kapitaldienst aufzubringen. Wir befürchten daher auch bei den Insolvenzen eine „zweite Welle“.
Ist die IHK als Bindeglied zu diesen Themen mit der Bankenlandschaft im Gespräch?
Gregor Werkle Ja. Wir haben einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch mit regionalen Bankenvertretern sowie den Bürgschafts- und Fördermittelbanken. Der Austausch dient insbesondere auch dazu, frühzeitig Themen für die politische Arbeit zu erkennen.
Viele Experten fürchten, dass das wahre Ausmaß der Krise nach Einstellung der Hilfsgelder durch den Bund erst gänzlich sichtbar sein wird. Die Rede ist von Zombieunternehmen, die derzeit nur durch die Finanzspritzen am Leben erhalten werden. Wie kritisch sehen Sie die Situation?
Gregor Werkle In der Tat wird die Lage durch die Insolvenzstatistik zurzeit beschönigt. Wir rechnen mit deutlich mehr Insolvenzen in diesem Jahr. Das haben wir anhand von fortgeschriebenen Fundamentaldaten von Creditreform Ende des vergangenen Jahres analysieren können. Konkret rechnen wir damit, dass die Ausfallwahrscheinlichkeit der Unternehmen im Jahr 2021 doppelt so hoch sein wird wie im Jahr 2019 – für den Fall, dass die Wirtschaft nur langsam wächst. Bei einer Stagnation in diesem Jahr wächst das Ausfallrisiko noch einmal um mehr als 20 Prozent.
Sind KMUs deutlich stärker betroffen als große Unternehmen?
Gregor Werkle Vor allem kleinere Unternehmen verfügen häufig nicht über die notwendigen Kapitalreserven, um eine solche Krise zu überstehen. Viele Einzelunternehmer setzen derzeit sogar ihre Altersvorsorge ein, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Besonders hart leiden unter Corona Branchen wie die Touristik, Gastronomie oder der Einzelhandel – spiegelt sich das in Ihren Daten wieder?
Gregor Werkle Ja, bei Branchen wie der Gastronomie ist selbst bei einer schnellen Erholung der Wirtschaft das Risiko eines Zahlungsausfalls erhöht, weil die Unternehmen deutlich länger geschlossen waren und wesentlich stärkeren Restriktionen ausgesetzt waren als andere. Beim Einzelhandel ist das Insolvenzrisiko ebenfalls erhöht.
Viel diskutiert wird die Lockdown-Politik. Wie sollte hier aus Sicht der IHK verfahren werden?
Gregor Werkle Natürlich steht Gesundheitsschutz an erster Stelle, aber dennoch muss den betroffenen Branchen die Möglichkeit gegeben werden, unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen wieder rentabel wirtschaften zu können. Mit dem Einsatz neuer Technologien sowie mit Schnelltests und den Massenimpfungen können wir im Frühjahr weitere Bereiche nach und nach verantwortungsvoll öffnen.
Der private Konsum ist stark eingebrochen. Haben Sie eine Prognose, wann Normalisierung eintritt?
Gregor Werkle Die Konsumgewohnheiten sind zum einen durch die Schließungen ganzer Wirtschaftszweige eingebrochen. Wenn Gastronomie, Einzelhandel und Freizeitwirtschaft wieder geöffnet haben und auch das Reisen wieder mit geringeren Einschränkungen möglich ist, wird es eine erste Normalisierung des privaten Konsums geben. Zum anderen hängt der Einbruch natürlich mit der Sorge vieler Menschen um ihren Arbeitsplatz und dem verringerten Einkommen durch Kurzarbeit zusammen. Bis wir wieder in die Konsumlaune des Vorkrisenniveaus kommen, wird es daher sicherlich bis ins Jahr 2022 oder noch länger dauern.
Stoßen Sie in der derzeitigen Situation auf Beispiel-Unternehmen, die Hoffnung machen?
Gregor Werkle Die Industrie ist – trotz des Lockdowns – zuversichtlich für das Jahr 2021. Das macht uns Mut. Die Produkte vom Niederrhein sind weltweit gefragt. Wir dürfen daher die Lieferketten nicht durch Grenzschließungen beschädigen.
Deutschland schneidet traditionell schlecht ab, wenn es um den Digitalisierungsgrad geht. Wo sehen Sie die Gründe? Sind wir in dieser Krise ein Stück weitergekommen? Wo sehen Sie Bedarf und Chancen im Bereich Digitalisierung?
Gregor Werkle Wir haben erkannt, dass der Digitalisierungsgrad der öffentlichen Verwaltungen teilweise auf einem überschaubaren Niveau war. Wir unterstützen daher das Land NRW aktiv bei dem Aufbau des Wirtschafts-Service-Portals, mit dem künftig alle Verwaltungsleistungen digital abgewickelt werden können.